FW - Text und Bild

Journalistische Ansichten auf und aus Berlin

Ein kleines Buch wirft große Fragen auf
Marianne Suhr ist auf Spurensuche


Kurz bevor Rußland sich die Krim holte, läßt Autorin Marianne Suhr in ihrem jüngsten Werk „Schnee über Rossoschka“ eine deutsche Delegation der Kriegsgräberfürsorge nach Wolgograd reisen. Zum 70. Jahrestag des Unterganges der 6. Armee der deutschen Wehrmacht sollen Gefallene umgebettet, identifiziert und ihr Schicksal aufgeklärt werden.


In jener Schlacht an der Wolga, die den historischen Hintergrund des Buches bildet, erlitten die deutschen Truppen und deren Verbündete die bis dahin größte Niederlage in der Geschichte. Die rote Armee zerschlug dort zwei deutsche, zwei rumänische und eine italienische Armee. Erstmals geriet ein deutscher Feldmarschall in Gefangenschaft. Von den 300 000 Soldaten, die auszogen, die Stadt, die vormals Zarizyn, dann Stalingrad hieß und heute Wolgograd heißt, zu erobern, kehrten nach dem Krieg nur 6000 zurück.


Zu der deutschen Reisegruppe gehört auch die literarische Heldin des Erzählwerkes Anna Blome. Ihr Vater gehört zu den vielen deutschen Soldaten, deren Schicksal ungeklärt ist. Anna Blome hat sich der Reisegruppe angeschlossen, um nach Spuren ihres in Stalingrad verschollenen Vaters zu suchen. Ansatzpunkt sind Briefe ihres Vaters, die an die Mutter gerichtet waren. Aus einem der Briefe geht hervor, daß ihr Vater als Sanitäter mit dem Militärarzt Kurt Reuber zusammengearbeitet hatte, der angelehnt an Ikonen die „Stalingrader Madonna“ zeichnete. Im Brief heißt es: „Gestern abend hat uns Kurt Reuber, unser Arzt hier im Lazarett und dem ich Verbinden helfe, sein neues Bild gezeigt. Es ist eine Frau mit einem Umhang, mit dem sie sich und ihr Kind schützt, das sie auf dem Schoß hat. Er nennt es ‚Madonna von Stalingrad‘.“ Dieses Bild gibt es wirklich. Das Original, das ein Verwundeter beim Ausflug aus dem Kessel mitgenommen hatte, kann in Berlin in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche besichtigt werden. Eine Replik soll sich in einem Pavillon am Rande des Gräberfeldes von Rossoschka befinden.

Die Autorin geht ein unentschlüsseltes Verhältnis von Realität und Fiktion ein. Sie legt kein literarisches Genre fest, sondern bezeichnet den Text als „eine Spurensuche“. Sie fügt dem Fotos hinzu, die die Reisegesellschaft zeigen. Selbst der Vater der literarischen Heldin wird auf einer Fotografie mit seinem Kraftfahrer bei Stalingrad dokumentiert. Dieser Kunstgriff erhöht einerseits die Authentizität des Textes, gerät aber andererseits in Widerspruch zu dem von der Autorin entwickelten Spannungsbogen. Anna Blome findet tatsächlich eine Spur ihres Vaters. Diese erscheint in der Figur der russischerseits die Gruppe betreuenden Dolmetscherin Irina. Die erzählte Geschichte legt nahe, daß es sich bei ihr um die Halbschwester von Anna Blome handeln könnte. Demnach habe der Vater nicht nur die Schlacht überlebt, sondern sogar noch mit einer Russin eine Tochter gezeugt. Daß sich schließlich beide Schwestern bei dieser Reise begegnen, ist ein an Unwahrscheinlichkeit grenzender Zufall. Die Autorin läßt die Frauen auf die in der modernen Biologie bestehende Möglichkeit, Verwandtschaftsverhältnisse nachzuweisen, verzichten. Viel wichtiger im Sinne der Geschichte ist nicht die Wahrscheinlichkeit, sondern die Möglichkeit, daß die Frauen, die einst verfeindeten Völkern angehörten, blutsverwandt sind. Trotz des beiderseitigen Fraternisierungsverbotes sind solche Fälle bekannt und auch mehrfach beschrieben worden. Solch eine geschwisterliche und familiäre Nähe entsteht tatsächlich bei einem späteren Besuch Irinas bei Anna Blome in Berlin. Bereits ihre Mütter müssen seelenverwandt gewesen sein, da sie sich in den gleichen Mann verlieben konnten. Der grassierende Völkerhaß lag demnach nicht in der Wesensart der Menschen. Wo er letztlich herkam und wie er das Handeln, teils sogar das verbrecherische Handeln von Massen an Menschen, bestimmen konnte, ist die große Frage, die dieses Buch aufwirft. Wie konnte es dazu kommen, daß Tötungsfabriken mit einem Menschendurchsatz errichtet wurden, wie er von keinem Schlachthof bekannt ist. Schließlich waren es auch Wehrmachtseinheiten, namentlich das XXIV. Panzerkorps, die bis zur letzten Möglichkeit das Funktionieren der industriellen Menschentötung absicherten. Die Rote Armee fand in Auschwitz noch die warmen Verbrennungsöfen vor.

Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Die Autorin nähert sich über mehrere unterschiedliche Textebenen, die auch teils typographisch voneinander abgehoben sind. Der fiktive Reisebericht der Anna Blome findet eine Fortsetzung in Berlin, wo vom Besuch Irinas bei ihren Halbgeschwistern und möglichen Schwager erzählt wird. Neben der berichtenden Anna Blome, die auch teilweise als Ich-Erzählerin erscheint, kommentiert auch die Autorin die Erlebnisse ihrer Heldin aus der Sicht aktueller politischer Ereignisse. Schließlich gibt es unmittelbares dokumentarisches Material in Form von Soldatenbriefen, historischen Bilddokumenten und offenbar auch privatem Fotomaterial.

Zentrale Frage des gesamten Gefüges ist: Was treibt Menschen dazu, unter fürchterlichsten Entbehrungen fremde Gebiete zu erobern? Was überzeugt sie davon, gegenüber den Überfallenen im Recht zu sein? Was überzeugt sie vom Sieg, obwohl rings um sie alles zusammenbricht? Was treibt sie, in einem augenscheinlich sinnlosen Kampf weiter auszuharren? So wie die Soldaten in Stalingrad verhielten sich letztlich die Truppen und auch die Bevölkerung in den großen deutschen Städten. In seinem letzten Brief schreibt der Vater an die Mutter: „Unsere Lage ist ernst aber zuversichtlich. Ihr müßt nun nicht denken, daß wir den Kopf hängen lassen. Nein, im Gegenteil, wir sind guter Laune, weil wir wissen, daß alles klappt. Jeder setzt sich hier so ein, daß nichts schief gehen kann“.
Marianne Suhr konnte beim Schreiben nicht ahnen, daß ihre Leser Zeugen werden, wie erneut solch eine nationale Befindlichkeit entsteht, wie alle bis dahin gültigen Werte in ihr Gegenteil verkehrt werden. Aus „Frieden schaffen ohne Waffen“ wird „Raketen für die Ukraine“. Aus Friedensaktivisten werden „Lumpenpazifisten“. Kriegsverbrechern werden (wenngleich gegenwärtig nur im Ausland) Denkmale gesetzt. Feinsinnig nimmt das Werk die beklemmende Atmosphäre auf, die mit der Zerschlagung Jugoslawiens entstand. Wie ein Alb liegt seither die Kriegsangst über der gesamte Lebenssphäre in Europa. Die Autorin fragt: „Der letzte Krieg in Europa liegt noch nicht lange zurück – im ehemaligen Jugoslawien kam er uns in Westeuropa bedrohlich nahe. Müssen wir neu denken und uns herauswagen aus unserer vorrangig monetär bestimmten scheinbar friedlichen Sicherheit?“ Diese Frage wird wohl eindeutig mit „Ja“ zu beantworten sein.

Mit seismographischer Sensibilität spürt sie diese Befindlichkeit auf, und leistet damit, was nur große Kunst kann: Zukunft zu antizipieren.

Suhr, Marianne. Schnee über Rossoschka. Berlin 2019. 216 S. 13,00 Euro. ISBN: 3-938414-65-1

 

Frank Wecker


 


75 Jahre nach Befreiung

Vom Sieg zur Niederlage und zu erneuter Hoffnung


Am 9. Mai 1945 sprach der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Josef Stalin im R undfunk zu seinen Landsleuten: „Vor drei Jahren verkündete Hitler dem Volk, daß es seine Aufgabe sei, die Sowjetmacht zu zerstückeln und von ihr den Kaukasus, die Ukraine, Weißrußland, das Baltikum und andere Gebiete abzutrennen. Er sagte gerade heraus, sie solle so vernichtet werden, daß sie sich nie wieder erheben kann. … Stattdessen stellte sich genau das Gegenteil ein: Die Sowjetunion triumphiert im Sieg, obwohl sie nicht vorhat, Deutschland zu zerstückeln oder zu vernichten.“

Die Rote Armee befreite aber nicht nur ihre Heimat, sie hatte bis zur Elbe halb Europa vom Faschismus befreit und dabei die Hauptlast bei der Zerschlagung der faschistischen Militärmacht getragen. Der hervorragende Anteil der Sowjetunion und der Kommunisten im Widerstandskampf stand außer Zweifel. Die Welt wußte, wer den Scherbenhaufen in Europa angerichtet hatte und wem sie die Erlösung von dem Albhtraum Faschismus zu verdanken hat. Der Kommunismus genoß hohes Ansehen. In westeuropäischen Ländern wie Frankreich waren Kommunisten in der Regierung vertreten, in Italien, Griechenland und Jugoslawien hatten ihre Partisanenarmeen die Heimat selbst befreit und damit bedeutenden politischen Einfluß. Auch in Deutschland mußten sich die reaktionären Kräfte wie die CDU populistisch bei den Kommunisten bedienen, um überhaupt in der öffentlichen Debatte wahrgenommen zu werden. Es war die Zeit, als die Losung „lieber ein Leben lang trocken Brot essen, als noch einmal Krieg erleben“ in aller Munde war.

Erst mit dem Ausbruch des Kalten Krieges gelang es schließlich dem Imperialismus in jahrzehntelangem Ringen diese Popularität zu kippen. Zunächst war der große Knüppel erforderlich zuletzt reichte subtile Propaganda. In den Westzonen wurden die Kommunisten aus den Rundfunkräten geworfen und dann verloren sie bei den großen westlichen Zeitungen ihre Lizenzen. Dann wurde die ostzonale Presse verboten. Die Westberliner Bezirksverordnetenversammlungen untersagten den Marktfrauen sogar Fisch und Gemüse in Ostzeitungen einzuwickeln, so sehr wurde eine freie Berichterstattung gefürchtet.

Heute, gut 75 Jahre später, wird die Jugend diese Furcht vor der Wahrheit gar nicht mehr glauben wollen. Inzwischen hat die Sowjetunion vor dem Imperialismus schmählich die Waffen gestreckt. Deutschland hat in groben Zügen die territorialen Ziele seines Vorgängerstaates erreicht. Die einst großen und bedeutenden kommunistischen Parteien Westeuropas sind zu Sekten verkommen. Die Nazis sitzen dort in den Parlamenten und die Exekutive ist von deren Anhängern durchseucht. In den von der Roten Armee befreiten osteuropäischen Ländern werden die Denkmäler, die an den Befreiungskrieg erinnern, geschliffen und die Geschichtswissenschaft wurde zur Hure der neuen Potentaten.

Doch außerhalb Europas, in Lateinamerika und Asien, sieht die Welt anders aus. In China ist unter der Führung der Kommunistischen Partei eine neue Macht entstanden, die sich anschickt, die größte Produktivkraftentwicklung der Weltgeschichte freizusetzen. Ihre Leistungsfähigkeit beweist sie gerade in den heutigen Tagen, wo die Menschheit von einer gefährlichen Pandemie bedroht wird. Sie beliefert die ganze Welt mit dringend benötigter Schutzausrüstung und hilft mit Ärzten. China ist wie die DDR ein Kind des Sieges der Sowjetunion über den Faschismus. Auch dieses Volk durchlief viele tragische Irrungen und Wirrungen. Aber, es ging in Asien aus dem Kalten Krieg stolz als Sieger hervor und steht nun an der Spitze der kommunistischen Weltbewegung. Diese Nation hat gewissermaßen das Erbe des historischen Sieges der Sowjetunion über den Faschismus übernommen und verkörpert heute die Hoffnung der Unterdrückten der Welt. 



Brecht in der DDR

Poesie und Engagement eines Dichters


„Ich bin hier“, womit Brecht die DDR meinte, „weil ich meine Meinungen habe“[1]. Er antwortete damit auf den Vorwurf des westdeutschen Schriftstellers Wolfgang Weyrauch, daß sein Engagement für den Frieden und die deutsche Wiedervereinigung nur seiner opportunistischen Hörigkeit gegenüber der DDR-Regierung geschuldet sei. Forderungen nach „Frieden“ und „deutscher Einheit“ galten um 1952, als Westdeutschland die Wiederaufrüstung und die Westbindung anstrebte, als üble SED-Propaganda.

Brecht gehört zu jenen Schriftstellern, die aus Nazideutschland vertrieben aus dem Exil zurückkehrend, die DDR beziehungsweise anfangs noch die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands zu ihrer Heimat erkoren. Brecht befand sich da in bester Gesellschaft, beispielsweise in der von Anna Seghers, die erste Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR werden sollte, des ersten Kulturministers der DDR Johannes R. Becher oder Heinrich Manns, den ersten Präsidenten der Akademie der Künste, dem es aber nicht mehr vergönnt war, die geplante Rückkehr in seine neue Wahlheimat zu erleben. Aus der Elite der deutschen Kunst hatte sich kaum jemand für die Westzonen entschieden, wo die Exilanten lange Zeit als „Vaterlandsverräter“ angesehen und entsprechend von der Literaturkritik und den Verlagen behandelt wurden.

Als die DDR gegründet wurde, war es breiter gesellschaftlicher Konsens, daß der Frieden nur dauerhaft durch die Entmachtung des Monopolkapitals und die radikale Bekämpfung des Militarismus gesichert werden könne. Solche „extremistischen“ Forderungen tauchten selbst an prominenter Stelle in Gründungsprogrammen von westzonalen CDU-Landesverbänden auf. Die Künstler hatten jedoch ein feines Gespür dafür, wo den Kriegstreibern ernsthaft der Boden entzogen oder wo, hinter der Phrase von „Freiheit und Demokratie“, die Restauration der alten Verhältnisse betrieben wurde, die letztlich zur Wiederbewaffnung, zur Auferstehung des besiegt geglaubten deutschen Militarismus, zur Spaltung der Nation und schließlich der beständigen Bedrohung durch den Atomtod führten.

Gegen Ende der DDR war es allerdings der Reaktion gelungen, dieses Meinungsbild umzukehren. Aller Erfahrung widersprechend sahen viele Bürger in der Sowjetunion eine treibende Kraft des atomaren Wettrüstens und wollten gar der Friedenspolitik der DDR eine „unabhängige“ Friedensbewegung entgegensetzen. Fast hilflos mahnte Ende 1981 Konrad Wolf auf der von Stephan Hermlin initiierten „Berliner Begegnung zur Friedensförderung“ gegenüber den Behauptungen des westdeutschen Autors Günter Grass mit dem Vers Jewgeni Jewtuschenkos „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“

Die Zwischenzeit war von unablässiger Auseinandersetzung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens gekennzeichnet. Sie sollte als „Kalter Krieg“ in die Geschichte eingehen, der mit einer Niederlage des Sozialismus endete.

Der Westen hatte die stärkeren Waffen. Mit seiner gigantischen Rüstung und dank konsumtiver Überlegenheit mittels Ausbeutung der „Dritten Welt“ konnte er der Wirtschaft des Ostblocks dem Sozialismus wesensfremde Entwicklungen aufzwingen. Diese heftigen Auseinandersetzungen machten auch um die Kunst keinen Bogen. Viele Künstler durchschauten die Fassade der glitzernden Konsumwelt. Aber im Gegensatz zur Nachkriegszeit, wo die Menschen in einer Trümmerlandschaft lebten, fanden die Mahner zunehmend weniger Gehör. Das geflügelte Wort der Nachkriegszeit: „Lieber ein ganzes Leben trocken Brot essen als noch einmal Krieg“, war längst vergessen. Die Begriffe „Frieden“, „Freiheit“ und „Demokratie“ wurden gegen den Sozialismus in Anschlag gebracht. Die Brechttochter Hanne Hiob zog 1990 zum dritten Male mit einem Wagenzug durch im Reklamelicht funkelnde „blühende Landschaften“ zwischen Bonn und Berlin. Auf den Wagen wurden einzelne Strophen des aus der Nachkriegszeit stammenden Brechtgedichtes „Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“ versinnbildlicht. Jede einzelne Strophe entlarvt, daß sich hinter der Phrase von „Freiheit und Demokratie“ die alten Kriegstreiber, Beamtenschaft und Großindustrie tummeln: „Die grauen Herren von den Kartellen“, „Hirnverhehrer“, „Planer der Vergasungslager“, „Stürmerredakteure“, „Judenwürger“

„Blut und Dreck in Wahlverwandtschaft

Zog das durch die deutsche Landschaft

Rülpste, kotzte, stank und schrie:

Freiheit und Democracy“.[2]

Das Besondere an Dichtung ist, daß sie nicht besiegt werden kann. Über Jahrhunderte leben die Lieder des Bauernkrieges fort, Ernst Buschs Spanienlieder kämpfen noch heute, wo der Sieg über die spanische Republik viel länger her ist als die Annektion der DDR. So ist auch die DDR-Kunst und mithin auch Brecht nicht „besiegt“, obwohl das mancher Reaktionär am Ende der DDR gehofft haben mag. Selbst das von der DDR geschaffene Brecht-Zentrum lebt heute unter anderem Namen am gleichen Ort fort und auch die von der DDR geschaffenen Brecht-Dialoge haben sogar unter gleichem Namen die DDR überdauert. Das ist aber nicht dem jetzigen Staat zu Gute zu halten. Vieles wird ehrenamtlich geleistet. Die Aktivisten, die dieses Werk fortsetzen, sind oftmals gehalten, demütig bei den neuen Herrlichkeiten um Fördermittel zu betteln, ihre Programme haben sie dem engen geistigen Horizont einer antikommunistisch ausgerichteten Bildungspolitik anzupassen.

Brechts erste Arbeit in der DDR war die Inszenierung seines Stückes „Mutter Courage und ihre Kinder“, die in Ermangelung einer eigenen Bühne noch am Deutschen Theater mit Helene Weigel in der Titelrolle Premiere hatte. Die Inszenierung wurde ein durchschlagender Erfolg. Noch nach einem Jahr sind die Vorstellungen ausverkauft. Erstaunt sieht Brecht beim Maiumzug 1950 vom Wagen des Berliner Ensembles aus, daß Mütter ihre Kinder hochhalten und ihnen auf Helene Weigel weisend erklären: „die mutter courage!“[3].

Brecht hatte mit diesem Stück das Fühlen und Denken der Menschen getroffen. Die Mutter, die mit einem Planwagen durch das im 30jährigen Krieg verwüstete Europa zieht, um ihre Kinder und sich selbst mit Geschäften über die schwere Zeit zu bringen. Das entsprach der Lebenserfahrung des Publikums; auch daß sie nicht das Glück gefunden, dafür aber alles im Krieg verloren hat. Unbelehrbar spannt sie sich schließlich selbst vor den Planwagen mit ihrer Krämerware, um den Weg unbeirrt von der eigenen Lebenserfahrung fortzusetzen. Brecht hoffte darauf, daß das Publikum dieses Verhalten kritisch sehen und für sich selbst die richtige Schlußfolgerung ziehen werde. In einem anderen Stück, dessen Held ebenfalls eine um ihre Kinder besorgte Mutter ist, wählt er eine gegensätzliche Dramaturgie. Hier zieht die Mutter nach dem Tod ihres Kindes die richtige Schlußfolgerung und kämpft gegen die Faschisten. Dieses Stück, „Die Gewehre der Frau Carrar“, war ganz nach der klassischen Dramentheorie der Einheit von Ort, Zeit und Handlung gebaut. Es war gewissermaßen ein Gegenentwurf zum epischen Theater, wo die Mutter Courage im Kreislauf der Drehbühne von Verlust zu Verlust marschiert. Zwei völlig unterschiedliche Dramaturgien sollen die gleiche Wirkung erzielen, einmal indem der Zuschauer das Handeln der Bühnenfigur nachvollziehend übernimmt und zum anderen, daß er sich vom vorgeführten Handeln distanziert und sich gegenteilig zum Handeln der Bühnenfigur verhalten soll. Brecht war sich nicht sicher, ob die beabsichtigte Wirkung eintreten werde. Er erkundete deshalb am 9. Januar 1949, noch vor der offiziellen Premiere, in einer geschlossenen Aufführung für Gewerkschaftsfunktionäre und Arbeiter des Hennigsdorfer Stahlwerkes die Wirkung der Mutter Courage. Sorgfältig verglich er die Reaktionen der Arbeiter mit denen von Intellektuellen. Während die nicht aus der Erfahrung lernende Courage bei den Arbeitern nur Mitleid erregte, forderten Leipziger Studenten eine realistische Figur, die zur Einsicht komme. Listig bestätigte Brecht den Realismus der Courage damit „daß selbst das ungeheure elend, in das der nationalsozialismus die bevölkerung stieß, wenig wandel hervorgebracht hat“[4], womit er die Lacher auf seiner Seite hatte.

So lustig ging es hingegen in der öffentlichen Debatte nicht immer ab. Da setzte ein oftmals kurzsichtig geführter Streit um „Formalismus“, „sozialistischen Realismus“ und „Dekadenz“, Begriffe, die in Brechts Auffassung von Theater keine Rolle spielten, ein. Ihm ging es um „Verfremdung“, „Lehrstücke“, „Versuche“, letztlich um ein „episches Theater“, das dem Zuschauer Lust und Vergnügen am Denken, an eigenen Schlußfolgerungen und Vorstellungen über das Handeln der Figuren bereiten sollte. Das führte zu öffentlicher Schelte und Vorhaltungen von manchen Funktionären, die die führende Rolle der Partei dahingehend interpretierten, daß die Partei auch besser wisse, wie zeitgemäße Kunst auszusehen habe und die Künstler sich gefälligst an die dafür gegebene Richtschnur zu halten hätten.

Die ästhetische Auseinandersetzung um Brecht spielte sich vor dem Hintergrund der Spaltung Deutschlands ab. In diesen Fragen gab es keinen Dissens. Eindringlich wurde davor gewarnt, Westdeutschland mit einer neuen Armee in westliche Militärbündnisse zu integrieren. Dies wäre friedensgefährdend und vertiefe die deutsche Spaltung. Ziel war die Wiederherstellung der deutschen Einheit in einem neutralen demokratischen Staat. Das war nicht unrealistisch. Die Aufstellung einer europäischen Armee mit deutschem Zugriff auf Atomwaffen konnte damals verhindert werden. Diese Idee feiert erst heute wieder Urständ. Nicht verhindert werden konnte dagegen die Aufnahme Westdeutschlands in die NATO. Brechts Worte, der unablässig warnte, verhallten nicht. Die damalige Friedensbewegung mobilisierte Tausende, die im Westen durch brutalen Polizeiterror und organisierte Medienkampagnen niedergehalten wurden. Erst ab diesem Zeitpunkt wurde die DDR nicht mehr als ein Provisorium angesehen.

Deshalb wertete Brecht auch die Niederwerfung des Umsturzversuches vom 17. Juni 1953 als ein friedenssicherndes Vorgehen: „Mehrere Stunden lang stand Berlin am Rande eines dritten Weltkrieges. Nur dem schnellen und sicheren Eingreifen sowjetischer Truppen ist es zu verdanken, daß diese Versuche vereitelt wurden. Es war offensichtlich, daß das Eingreifen der sowjetischen Truppen sich keineswegs gegen die Demonstrationen der Arbeiter richtete. Es richtete sich ganz augenscheinlich ausschließlich gegen die Versuche, einen neuen Weltbrand zu entfachen.“[5] Solch klare Worte über den Lieblingsarbeiteraufstand der Bourgeoisie rief die Wadenbeißer auf den Plan: In Westdeutschland und Österreich wurde zum Boykott der Werke Brechts aufgerufen, um dem „Schmäher des Westens“ und „Lakaien Pankows“ den Brotkorb höher zu hängen. Brecht gehörte jedoch nicht zu den korrumpierbaren Autoren. Seinem Weg zum neben Shakespeare meistgespielten Dramatiker der Weltliteratur tat das keinen Abbruch.

Brecht berührten tiefere Probleme. An den Demonstrationen waren Bauarbeiter aus der Stalinallee beteiligt, denen er Gedichte gewidmet hatte, und Hennigsdorfer Stahlwerker, dem ersten Publikum seiner Courage-Inszenierung. Ihn beschäftigte ferner der rasche Umschlag der Losungen: Aus „Weg mit den Normen“ wurde „Weg mit der Regierung“ und daraus „Hängt sie“. „Der Bürgersteig übernahm die Regie“, schrieb er an seinen Verleger Peter Suhrkamp: „Ich habe an diesem tragischen 17. Juni beobachtet, wie der Bürgersteig auf die Straße das ‚Deutschlandlied‘ warf und die Arbeiter es mit der ‚Internationale‘ niederstimmten. Aber sie kamen, verwirrt und hilflos, nicht durch damit.“[6] Neben vielen neuen Haltungen, die er bei den Arbeitern entdeckte, mußte er feststellen, daß die Naziideologie noch vorhanden war.

Brecht gehörte nicht zu jenen Leuten, die über der Wirklichkeit verzweifeln, wenn sie anders als erwartet verläuft. Nach den Ereignissen fuhr er auf seinen Sommersitz nach Buckow. Da entstanden die „Buckower Elegien“. Sie enthalten jene witzigen Verse über die Regierung, die besser ihr Volk auflöse und sich ein neues wähle, welche zum Zitatenschatz jener Brechtianer gehören, die der DDR nicht wohl gesonnen sind. Nach der Erfahrung einer siegreichen Konterrevolution, die zum Untergang der DDR führte, sollten wir vielleicht eher über das Gedicht „Böser Morgen“ aus dem gleichen Zyklus nachdenken:

„Heute nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend

Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und

Sie waren gebrochen.

Unwissende! schrie ich

Schuldbewußt.“[7]

Nach Brechts Tod nahm sich die Regierung der DDR der Pflege seines Erbes als einer nationalstaatlichen Aufgabe an. Herausragend waren dabei die Brecht-Dialoge. die beginnend mit dem 70. Geburtstag Brechts im Rhythmus von mindestens zehn Jahren veranstaltet worden waren. Es waren internationale Arbeitstagungen, an denen sich führende Kunstinstitutionen, wie die Akademie der Künste, die Akademie der Wissenschaften, Künstlerverbände und Hochschuleinrichtungen wie die Humboldt-Universität und die Filmhochschule beteiligten. Zu den Veranstaltungen kamen Gäste aus aller Welt. Dafür wurden beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt. Für den Brecht-Dialog 1978, an dessen Vorbereitung der Autor dieser Zeilen beteiligt war, waren es allein 864 800 Mark der DDR und zusätzlich 25 000 Valuta Mark. Bei diesem Brecht-Dialog wurde weit mehr als der Theatermann und Lyriker Brecht in den Blick genommen. Erstmals wurden in zahlreichen Film- und Fernsehvorführungen in größerem Umfang Verfilmungen Brecht’scher Stücke, Fernsehadaptionen von Brechtliteratur und Filme nach Drehbüchern von Brecht gezeigt. Selbst das Festival des politischen Liedes wurde einbezogen, wo demonstriert werden konnte, wie die internationale Jugend vom politischen Lied Brechts und Eislers angeregt wurde. Im Vorfeld dieses Brecht-Dialoges wurde eine Reihe neuer Institutionen eröffnet. In der Berliner Chausseestraße 125 wurde Brechts ehemaliges Wohnhaus unter Denkmalschutz gestellt und zum Brecht-Haus ausgebaut. Dort fand das neugegründete Brecht-Zentrum, dessen erste Bewährungsprobe die Koordination des Brecht-Dialoges wurde, seine Heimstatt. Zwischen den Brecht-Dialogen setzte es dessen Arbeit in kleineren Veranstaltungen fort. Die Wohn- und Arbeitsräume des Paares Brecht-Weigel wurden im Originalzustand wiederhergestellt. Die Akademie der Künste erhielt eigene Arbeitsräume, wo sie für die Brecht-Foschung die Nachlässe von Brecht, Helene Weigel, Ruth Berlau und Elisabeth Hauptmann zur Verfügung stellt. Zum Haus gehörten auch eine Bücherei und eine Gaststätte, wo nach Rezepten von Helene Weigel gekocht wurde. Es wurde die Zeitschrift „Notate“ gegründet, die über die Arbeit des Brecht-Zentrums informiert. Das Ministerium für Kultur hatte den Sommersitz von Brecht in Buckow erworben, das zum Brecht-Weigel-Haus mit einem Museum ausgebaut wurde. Dort ist unter anderem der legendäre Planwagen der Mutter Courage, wie er für die DEFA-Verfilmung des Stückes verwandt worden war, zu sehen. Dieses Haus wurde ebenfalls vom Brecht-Zentrum betreut. Am Brecht Dialog nahmen aus dem Ausland 185 Persönlichkeiten teil, die aus 40 Ländern aller Kontinente anreisten.

Auch zu diesem Zeitpunkt gab es in der Ost-West-Auseinandersetzung keine Pause. Der 78er Dialog fand nur wenige Monate nach der Ausbürgerung des dichtenden Provokateurs Wolf Biermann satt. Dagegen gab es einen offenen Protestbrief von Stephan Hermlin, den führende Künstler der DDR unterzeichnet hatten, darunter auch Volker Braun. Da gab es keine Scheu, auch kritische Künstler zum Brecht-Dialog einzuladen. Volker Braun nahm die Gelegenheit wahr, dort unter anderem kräftig mit über die Buckower Elegien zu diskutieren.

Versuche, Unruhe zu stiften, scheiterten an dieser Offenheit der DDR Kulturpolitik und auch an der Borniertheit der Widersacher. Letztere hatte schon Brecht 1950 bemerkt, als er in München mit einigen westdeutschen Autoren zusammentraf: „keinerlei kenntnis über die DDR“, notierte er. „Erzähle von landverteilung, arbeiter-und-bauern-universitäten, pfingstreffen der FDJ und erkläre, warum der sozialismus friedlich, der kapitalismus kriegerisch ist; daß ihre existenz abhängt von dem schwierigen Kampf der SED im osten. Man hört mir höflich zu.“[8] An dieser Ignoranz hat sich bis heute nichts geändert, nur wird nicht mehr höflich zugehört.

Frank Wecker


[1] Brecht, Bertolt: Werkausgabe. Frankfurt a. M. 1967. Gesammelte Werke Bd. 19. S. 499.


[2] Brecht: a. a. O. Bd. 10. S. 947


[3] Brecht. Werkausgabe. Supplementband. Arbeitsjournal. Frankfurt a. M. 1973. S. 563


[4] ebenda S. 549


[5] Brecht, Bertolt: Werkausgabe. Frankfurt a. M. 1967. Gesammelte Werke Bd. 20. S. 327


[6] Zitiert nach: Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht. 2. Berlin 1986. S. 507


[7] Brecht, Bertolt: Werkausgabe. Frankfurt a. M. 1967. Gesammelte Werke Bd. 10. S. 1010


[8] Brecht. Werkausgabe. Supplementband. Arbeitsjournal. Frankfurt a. M. 1973. S. 568.



 

 

Agis

Der vergessene König und der vergessene Widerstand

Katharina Ehrlicher ist eine hochbetagte Dame aus dem Grunewald, die häufig von Schulen als sogenannte Zeitzeugin eingeladen wird, um aus eigenem Erleben über die Nazizeit zu erzählen.

Sie kann nicht nur von Verfolgung und Leid berichten, sondern auch vom Widerstand. Sie stammt aus einer kommunistischen Familie. Ihr Vater Herbert Schulze war ein berühmter Pianist und Orgelbauer, der die Werke von Komponisten der Moderne wie Skrjabin, Schönberg, Krenek, Hindemith und Strawinsky oft erstmals in Deutschland zu Gehör gebracht hatte. Von den Nazis mit Berufsverbot belegt, verschaffte ihm Hugo Distler im Johannesstift in Spandau ein Auskommen. Die ganze Familie arbeitete dort weiter gegen die Nazis. In der evangelischen Fürsorgeeinrichtung speisten häufig Persönlichkeiten der mit dem kirchlichen Widerstand verbundenen Bekennenden Kirche wie Martin Niemöller, Harald Poelchau, Helmut Gollwitzer und Hilda Heinemann mit am Mittagstisch der Familie. Auch Katharina Ehrlicher leistete Widerstand: Als Zwölfjährige brachte sie Speisen und Nachrichten zu einer jüdischen Familie in der Kantstraße.

Wenn sie aus dieser Zeit berichtet, wird ihr von den Jugendlichen nicht nur Hochachtung und Respekt entgegengebracht. Sie stößt auch auf eine Protesthaltung von eher rechtsorientierten Jugendlichen. Über die Ursachen für diese Rückorientierung hat sie sich ihre eigenen Gedanken gemacht: „Von den Jugendlichen wird immer wieder verlangt, daß sie sich für etwas schämen sollen, zu dem sie gar keine Beziehung haben. Nationalstolz wird als anrüchig betrachtet. Die Jugendlichen leben aber in einem Deutschland, auf das sie stolz sein wollen, zumal sie auch in jungen Jahren bereits zum Wohl dieses Landes beitragen.“

Dabei gibt es allen Grund, auf dieses Land stolz zu sein, zu dessen heutigem internationalen Ansehen sie selbst beitragen. Sie dürfen aber auch auf die Geschichte ihres Landes stolz sein, auch in seinem finstersten Kapitel, denn auch in dieser Zeit haben, wie das Beispiel der Familie von Katharina Ehrlicher zeigt, weit mehr Menschen das Ansehen Deutschlands hochgehalten, als es später dem eigenen Widerstand zugestanden wurde. Das geschah aus politischem und wirtschaftlichem Kalkül nach der militärischen Niederlage Deutschlands. Es ist endlich an der Zeit, nicht länger durch eine ideologische Brille auf dieses Kapitel zu blicken.

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist stets erfolgt. Die Blickwinkel wechselten jedoch. Katharina Ehrlicher ist nur eine von vielen Zeitzeugen, die trotz ihres hohen Alters immer wieder den Weg zu der Jugend finden. Auf diesem Weg begegnen ihnen wie täglich auch den Jugendlichen zahlreiche Denkmale, großflächig in bester zentraler Lage der Stadt, die der Auseinandersetzung mit dieser Zeit gewidmet sind. Nachdem einmal der Anfang gemacht wurde, beansprucht nun möglichst jede Opfergruppe einzeln in teuerster Stadtlage ein zentrales Denkmal. Diese Denkmale dienen nicht nur der Erinnerung: Sie führen immer wieder eine nationale Schuld vor Augen und fordern eine nationale Demut. Dagegen nimmt sich, von der Offiziersgruppe um die Attentäter des 20. Juli im Generalstab der Wehrmacht abgesehen, der von den Deutschen selbst geleistete Widerstand verschwindend gering aus, was keineswegs seiner historischen Bedeutung entspricht. Aber gerade Denkmale, die auf den eigenen deutschen Widerstand verweisen, wären geeignet, das Volk endlich aus der verordneten Schamgemeinschaft heraustreten zu lassen und sich selbstbewußt auf seine demokratischen Traditionen und seinen aus dem Volke erwachsenen Widerstand zu berufen. Die Jugend könnte hier patriotische Vorbilder finden, auf die sie stolz sein darf.

Dies scheint aber zumindest in der Nachkriegszeit nicht gewollt gewesen zu sein. „Der Krieg ist nix als die Geschäfte“, dieser Vers aus Bert Brechts „Mutter Courage“ hat sich wohl selten deutlicher offenbart als indem Vertrag von Versailles nach dem I. Weltkrieg: Deutschland wurde die alleinige Kriegsschuld zugeschrieben, was den Grund bot, das Land auszubluten und sich daran zu bereichern. Ohne diese Ungerechtigkeit wäre es wahrscheinlich nicht möglich gewesen, einen „energischen Führer“ an die Spitze des Landes zu hieven, „der mit dieser Schmach von Versailles“ gründlich aufräumt. In neuer angepaßter Form sollte sich dieses Modell nach dem II. Weltkrieg nochmals bewähren. Zweifellos wurde diesmal der Krieg allein von Deutschland vom Zaungebrochen, doch die tiefere Ursache lag wohl schon in dem nicht auf Interessenausgleich bedachten Vertrag von Versailles. Nach dem II. Weltkrieg wurde nunmehr nicht mehr nur der Staat für die Verbrechen der Nazis haftbargemacht, sondern staatliches Handeln individualisiert: Jedem einzelnen Bürgerwurde Mittäterschaft zumindest aber Duldung der im Namen des Staates begangenen Verbrechen unterstellt. Dem gesamten deutschen Volk wurde kollektiv die Schuld an den Verbrechen der Nazis zugesprochen. Der alliierte Kontrollrat hatte fünf Kategorien aufgestellt, in die jeder Deutsche nach individueller Schuldeinsortiert wurde. Da gab es Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und die Unbelasteten. Was es nicht gab, das waren die deutschen Widerstandskämpfer. Teils wurden diese Antifaschisten sogar mitbestraft. Widerständler, die in die Bewährungs- und Strafbataillone der Nazis zwangseingegliedert worden waren, fanden sich schließlich mit allen anderen „Mitläufern“ in den Kriegsgefangenenlagern wieder. Das handhabten alle Alliierten so, die US-Streitkräfte mit Heinrich Scheel und die Sowjetarmee sperrte zum Beispiel den Charlottenburger Widerstandskämpfer Rainer Küchenmeister in ein Kriegsgefangenenlager.

Rainer Küchenmeister gehörte zu den jüngsten Widerstandskämpfern, die im Zusammenhang der hauptsächlich auf dem heutigen Gebiet des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf arbeitenden Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ festgenommen wurden. „Rote Kapelle“ ist die dem Nazijargon entnommene Bezeichnung für eine in Westeuropa agierende Spionagegruppe der sowjetischen Militäraufklärung (GRU). Da es auch in dem Charlottenburger Widerstandskreis um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack Kontakte zu diesen Kämpfern gab und auch ein Probefunkspruch nach Moskau gesandt worden war, wurde von den Nazis und dann auch späterhin diese Gruppe der „Roten Kapelle“ zugeschlagen.

Aus diesem Charlottenburger Widerstandskreis wurden zwischen dem 31. August und dem 12. September 1942 120 Bürger verhaftet. Weitere Verhaftungen folgten bis November 1942. Vor dem Reichskriegsgericht in der Witzlebenstraße wurden 84 Anklagen erhoben. Es fällte 27 Todesurteile, 32Widerstandskämpfer wurden in die Zuchthäuser und Konzentrationslager geschickt und 17 mit Gefängnis bestraft. Der älteste Angeklagte war der Invalidenrentner Emil Hübner. Er wurde im Alter von 81 Jahren in Plötzensee ermordet, der Jüngste war Rainer Küchenmeister. Er erlebte seinen 17. Geburtstag im Trakt 5des Polizeigefängnisses am Alexanderplatz. Sechs Tage nach diesem Geburtstag fand er dort seine erste große Liebe, die er jedoch nie zu Gesicht bekommen sollte. Nach einem Monat Haft drang in dieser kalten, grauen und finsteren Welt das fröhliche Pfeifen eines Mädchens an sein Ohr. Ein erstes Band zwischen ihnen knüpfte der Name Harro Schulze-Boysen, den das Mädchen, das genau eine Etage über ihn eingesperrt war, herunterrief. Nachts unterhielten sie sich von Fenster zu Fenster, sie tauschten Liebesbriefe als Kassiber aus. Sogar Literatur ließ das Mädchen an einem Bindfaden zu seinem Fenster herunter. Auf diese Weise lernte Rainer Küchenmeister Hölderlin kennen. Zu gern hätte er die Frau gesehen. Ein Mithäftling, der zum Schafott geführte wurde, schenkte ihm, weil er es nicht mehr brauchte, ein Stück von einem Rasierspiegel. In welche Position er das kostbare Stück auch arrangierte, die Eignerin der geliebten Stimme konnte er darin nicht erblicken. So verabredeten sie, daß das Mädchen zu einer bestimmten Zeit zur Krankenzelle gehen würde. Die befand sich seiner Zelle gegenüber, aber eben eine Etage höher. Zur verabredeten Zeit linste er durch das Guckloch seiner Zelle im spitzen Winkel nach oben, wo er kurz die Wade einer Frau erspähen konnte. Der junge Mann überlebte, seiner Liebe, Cato von Bontjes van Beek, wurde im Alter von 21 Jahren in Plötzensee der Kopf mit dem Fallbeil abgeschlagen. Später wurde Rainer Küchenmeister ein begnadeter Maler. Immer wieder malte er das Porträt Catos, so wie er sich ihr Gesicht vorgestellt hatte. Außer einer Wade hatte er ja von seiner ersten Liebe nie etwas zu Gesicht bekommen.

Mit dem Blick auf die Guillotine schieden drei weitere junge Frauen im Alter von unter 30 Jahren aus dem Leben: Die Katholikin, Studentin für neuere Sprachen und gebürtige Charlottenburgerin Eva-Maria Buch, weil sie für die französischen Fremdarbeiter ein Flugblatt in deren Muttersprache verfaßt hatte, Libertas Schulze-Boysen und die im 3. Schwangerschaftsmonat mit 18 Jahren verhaftete Liane Berkowitz vom Viktoria-Luise-Platz 1. Wie sie war auch die mit 33 Jahren schon etwas ältere Hilde Coppi schwanger. Auch sie durfte vor ihrer Hinrichtung noch ihr Baby austragen. Sie nannte es nach ihrem zuvor hingerichteten Mann Hans. Hans Coppi der jüngere hat im Gegensatz zur Tochter von Liane Berkowitz überlebt und später wertvolle Arbeiten über die Geschichte jener Widerstandsgruppe, in der seine Eltern mitwirkten, veröffentlicht.

Was war das Verbrechen dieser beherzten Bürger? Zunächst verweigerten sie sich der braunen Massensuggestion, lebten eine eigene Gegenkultur in ihren Freundeskreisen, dann versuchten sie mit Flugblättern und Aktionen eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen, schließlich sahen sie, als ihnen die immensen Verbrechen der Nazis bekannt wurden, daß dieser Mörderbande aus eigenen deutschen Widerstandskräften nicht Einhalt geboten werden kann und unterstützten direkt mit Informationen die Alliierten.

Der auffällig stark auf dem heutigen Gebiet von Charlottenburg-Wilmersdorf wirkende Widerstandskreis war ein Leuchtturm des Widerstands, aber keineswegs eine Ausnahme. Widerstand gab es in vielen Regionen. Es gab ihn überall im Volk, in allen Altersgruppen, Schichten und umfaßte Bürger unterschiedlicher politischer Überzeugungen. Die Tragik ist, daß diese Tatsache aus reinem politischen und wirtschaftlichen Interesse von den Siegermächten bis heute gern geflissentlich übersehen wird.

Dem Volk wurden nach dem Krieg zwar die Verbrechen der Nazis vor Augen geführt, aber die Opfer des deutschen Widerstandes wurden zunächst nicht erwähnt. Einzelne herausragende Persönlichkeiten erschienen damit ebenso wie der gesamte Widerstand als Ausnahme. Da das gesamte Volk am Pranger stand, wurden sie in dem allgemeinen Klima sogar als Verräter gebrandmarkt, die sich weigerten, das Schicksal mit dem Volk zu teilen. Ehrungen wurden ihnen verweigert. Willy Brandt mußte seine Staatsbürgerschaft neu beantragen, da die alte Ausbürgerung nach dem von den Nazis in Gebrauch gebrachten archaischen Terminus bis heute als „rechtens“ gilt. Schriftsteller wie Thomas Mann, demokratische Politiker wie Herbert Wehner und Diven wie Marlene Dietrich sahen sich über Jahrzehnte heftigsten Vorwürfen ausgesetzt, weil sie sich vom Staatsgebiet der Alliierten aus öffentlich gegen das Nazisystem gestellt hatten. Letztere wurde auf Konzerten ausgepfiffen und jahrelang weigerte sich Berlin, eine Straße oder einen Platz nach ihr zu benennen. Das erfolgte erst auf dem privaten Gelände auf einem Teil des Potsdamer Platzes. Erst recht blies dieser eisige Wind denen entgegen, die keine Berührungsängste mit den von den Nazis am meisten gehaßten und verfolgten Gegnern der Nationalsozialisten, den Kommunisten und der Roten Armee, hatten.

Selbst in der von Kommunisten regierten DDR wollte man zunächst nichts von diesem Widerstand wissen, obwohl diese Bürger für deren Schutzmacht im wahrsten Sinne des Wortes die Köpfe hingehalten hatten. Erst als im Westen mit sensationellen „Enthüllungsgeschichten“ über diese „Verräter“ hergezogen wurde, sah der Osten die Stunde gekommen, sie alle zu Kommunisten, zumindest aber unter Führung der Kommunisten wirkende Bürger zu machen. Einigen von ihnen wurde die Ehre zu Teil, als heldenmütige Kundschafter der Sowjetarmee in die Annalen der Geschichte einzugehen. Die Leute um das Ehepaar Schulze-Boysen und Arvid Harnack haben höchsten Respekt verdient. Sie haben auch den Alliierten wertvolle, vielleicht sogar schlachtentscheidende Informationen geliefert, aber Kommunisten, „Aufklärer“ oder Spione waren sie mit Sicherheit nicht. Kommunisten und Spione gab es in der Widerstandsgruppe, aber sie stellten weder die Köpfe noch hatten sie die Führung inne.

Eine erste Veränderung in der Bewertung des Widerstands trat ein, als die beiden getrennten deutschen Staaten in Militärbündnisse integriert wurden, die sich im globalen Maßstab feindlich gegenüberstanden. Bewährte Wehrmachtsgenerale wurden wieder gebraucht. Einige von ihnen wurden für die Vorbereitung eines neuen Schlachtens durch ihre Nähe zum Führerattentat vom 20.Juli 1944 legitimiert. Im östlichen Teil Deutschlands wurde der bürgerliche Widerstand unter die Ägide der KPD gestellt, und bis zur Öffnung der Staatssicherheitsarchive in der früheren Sowjetunion die wahre Tragik ihres Opferganges verschleiert.

Dadurch erhielten die beiden deutschen Staaten jeweils ihren eigenen Widerstand. Von der gleichen Bestie hingerichtet, fanden sie sich im Grab als unversöhnliche Feinde wieder, obwohl es zwischen beiden Widerstandskreisen auch persönliche Berührungspunkte gab. Die ideologischen Interpreten bezichtigten einander des Verrats und der Verbrechen. Für die einen waren die Widerständler nur umgefärbte Nazis, die die gleichen Ziele mit anderen Mitteln verfolgten, die anderen waren Verräter, die tausende wackerer deutscher Soldaten auf dem Altar des Kommunismus geopfert hatten.

Die ehrlichen Motive dieser mutigen Menschen, die sich dem Terrorsystem entgegenstellten und dafür wie kaum andere gelitten haben blieben auf der Strecke. Das ist nicht nur eine Ungerechtigkeit diesen Menschengegenüber, die für eine Korrektur der Geschichtsbücher interessant ist, sondern geht uns heute alle an, besonders jedoch, wie die Erfahrung von Katharina Ehrlicher zeigt, die Jugend und jene jungen Menschen, die aus anderen Staaten und Kulturen hier heute ihre Heimat finden.

Gerade in Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es dank dieser Widerstandsgruppe zu hunderten Persönlichkeiten und Widerstandsaktionen, auf die die Jugendlichen mit Stolz blicken könnten, wenn die ideologischen Scheuklappen abgenommen würden. Bis heute ist die Kühnheit ihrer Widerstandsaktionenweitgehend unbekannt. Völlig unzureichend wird gewürdigt, daß dieser Widerstandsgruppe fast zur Hälfte Frauen angehörten, von denen vier im Alter um die 20 Jahre in einer grausigen Prozedur ihr Leben ließen. Zu ihnen gehören Frauen wie Libertas Schulze-Boysen aus Westend, Cato Bontjes van Beek vom Kaiserdamm 22, die im Alter von 18 Jahren und schwanger verhaftete Liane Berkowitz, Eva -Maria-Buch aus Charlottenburg, Hannelore Thiel aus Wilmersdorf oder, etwas älter, Hilde Coppi, die am Fehrbelliner Platz bei der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte arbeitete. Diese Frauen wußten trotz Terror, Angst und Massenpsychose, was Recht und Anstand ist, und haben für die Ehre Deutschlands ihr Leben gelassen. Es ist höchste Zeit, viel stärker als bisher ihre mögliche Vorbildwirkung zum Tragen zu bringen.

Diese Frauen teilen alle das Schicksal, in ihrem dritten Lebensjahrzehnt von den Nazis unter das Fallbeil in Plötzensee gezerrt worden zu sein. Von ihren Altersgenossen unterschied sie der Mut, laut zu sagen, daß die Nazis ein Terrorregime errichtet hatten. Daß die SA und SS unterstaatlichem Schutz offen Verbrechen begingen, hat nur der nicht gesehen, der demonstrativ weggeschaut hat. Was in Deutschland selbst nicht sichtbar war, weil die Verbrechen in den eroberten Ländern begangen wurden, hatte Libertas Schulze-Boysen aus ihr zugänglichem Originalmaterial dokumentiert. In Panik hatte sie dies unmittelbar vor ihrer Verhaftung vernichtet. Wenn davon etwas erhalten geblieben wäre, hätten vielleicht die Gerichte, die historische Verantwortung nur nach individuell nachweisbarer Schuld verurteilen, vielleicht doch den einen oder anderen Verbrecher belangen müssen. Immerhin schöpfte der Freundeskreis daraus Material für eine sechsseitige Denkschrift „Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk“, die zur Zeit des größten Siegesrausches der Nazis deren baldiges Ende mit den bitteren Folgen für das deutsche Volk voraussah. Der nach einer Vorlage von Cato Bontjes van Beek und ihrem Freund Heinz Strelow von Harro Schulze Boysen und John Rittmeister verfaßten Schrift, gab vermutlich John Rittmeister den Titel „Agis“. Das Todesurteil gegen Libertas Schulze-Boysen wurde unter anderem damit begründet, daß sie den Titel der Schrift angeregt haben soll. Nicht nur der Inhalt,  sondern auch dieser Titel sollte sich fast ein Jahr vor der Schlacht von Stalingrad in mehrfacher Hinsicht als prophetisch erweisen. Agis war gemeinsam mit Leonidas, der seinen Rivalen nach einem inszenierten Überfall auf das Tempelasyl widerrechtlich hinrichten ließ, König von Sparta. Leonidas ging durch die von ihm geleitete Schlacht gegen die Perser an den Thermopylen in die Geschichte ein, die Schiller zu dem berühmten Vers: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl“ inspirierte. Wenige Monate nach Erscheinen der Schrift, im Januar 1943, sollte Göring diese Schlacht mit der um Stalingrad vergleichen und nach dem antiken Vorbild Schiller im Munde führend von den ausgehungerten und erfrierenden Soldaten verlangen, ebenso heldenhaft allerdings ohne Siegeshoffnung auszuharren. Heute steht am Stadion von Sparta ein Heldenmonument von Leonidas. Agis wäre vergessen, wenn es nicht diese Schrift der Gruppe um Harro Schulze-Boysen gebe. Darin heißt es, als Hitler auf dem Gipfel seiner Macht war und scheinbar unaufhaltsam über die Wolga hinaus auf den Kaukasus zustürmte: „... in allen Ländern werden heute täglich Hunderte, oft Tausende von Menschen ... willkürlich erschossen oder gehenkt. ... Im  Namen des Reiches werden die scheußlichsten Quälereien und Grausamkeiten an Zivilpersonen und Gefangenen begangen. ... Das Volk weiß, daß es sich eines Tages vor der Geschichte, vor sich selbst und vor der Welt wird verantworten müssen. ... Jeder weitere Kriegstag vergrößert nur die Zeche, die am Ende von allen bezahlt werden muß“. Die von den Nazis als „Halbjüdin“ eingestufte und später ebenfalls geköpfte Marie Terwiel hat die Schrift abgetippt und aus dem Telefonbuch Adressen herausgesucht, an die sie versandt werden sollte. Dabeihaben die Widerstandskämpfer das System dreist herausgefordert. Adressatenwaren unter anderem Roland Freisler, damals noch als Staatssekretär im Justizministerium hoffnungsvoller Nachwuchskader, Alois Hitler, der Bruder des Führers, der am Wittenbergplatz eine gutgehende Kneipe betrieb, und schließlich das Propagandaministerium, um dessen Chef Joseph Goebbels wissen zu lassen, daß noch nicht alle Regimegegner totgeschlagen oder in Haft sind und nicht alle dem emotional fesselnden Nazisingsang zujubeln. Die Verfasser und Verteiler sind alle umgebracht worden. Aus der Kenntnis der griechischen Mythologie hätten die Nazis wissen können, daß ihnen das nicht hilft, weil niemand den Erinnyen entkommt. Zunächst gelang es der Gestapo jedoch nicht, die Adressanten ausfindig zu machen. Dazu verhalf ihr erst der sowjetische Geheimdienst. Das ist möglicherweise der tiefere Grund, der den Umgang mit diesem Widerstandskreis im Osten so schwierig machte.

Libertas Schulze-Boysen gebühren noch weitere Verdienste. Sie hat die beiden großen Widerstandskreise miteinander verbunden, den um Harro Schulze-Boysen mit dem Kreis um Arvid Harnack. Diese Gruppen wiederum bestanden aus Kreisen, die ebenfalls schon zuvor aus eigener Initiative gegen die Naziherrschaft arbeiteten. Libertas Schulze-Boysen hatte durch ihre persönliche Bekanntschaft mit Hermann Göring ihren Mann in jene Position im Reichsluftfahrtsministerium geholfen, von wo aus er Informationen von strategischer Bedeutung für die Sowjetarmee hatte bringen können. Schließlich stellte Libertas Schulze-Boysen die Verbindung zur Auslandsaufklärung der Roten Armee her. Erst das setzte Harro Schulze-Boysen in die Lage, Moskau über die Angriffsvorbereitungen auf die Sowjetunion und über den Sturm auf Stalingrad zu informieren. Ersteres wurde im Kreml ignoriert, weil diese Information nicht in die Vorstellungswelt von Stalin über den Lauf der Dinge paßte. Mit dem Zweiten hatte es der Generalstab der roten Armee plötzlich eilig, weil, wie der Sturm auf Stalingrad zeigte, sich seine Informationen nun zum zweiten Male bewahrheiteten und sich diese Quelle als zuverlässig erwiesen hatte. Aus Moskau kamen Funkgeräte. Die Intellektuellen dieses Freundeskreises vermochten aber nicht, damit umzugehen. Hans Coppi zerstörte sogar versehentlich ein Gerät, weil er es an Gleichstrom statt an Wechselstrom angeschlossen hatte. Daraufhin mobilisierte der sowjetische Nachrichtendienst sein in Brüssel residierendes Spionagenetz. Unbekümmert wurde zwar verschlüsselt aber nicht unentschlüsselbar von Moskau über Deutschland hinweg nach Brüssel an den Oberspion Alexander Gurewitsch gefunkt: „Gehen Sie in Berlin zu Adam Kuckhoff oder seiner Frau in der Wilhelmstraße 18,Tel. 836261, zweite Treppe links, obere Etage... Falls Kuckhoff nicht anzutreffen ist, wenden Sie sich an die Frau von Harro Schulze-Boysen, Libertas, Altenburger Allee 19, Tel. 99 58 47“. Das war nicht der Fehler eines vertrottelten Beamten, sondern wurde mit Kenntnis der ranghöchsten Geheimdienstgenerale veranlaßt. Diese Achtlosigkeit kostete 27 beherzten Berlinern, die auf die Bündnistreue der Sowjetunion vertraut hatten, das Leben. Das praktizierte auch gegenüber der in der Schweiz arbeitenden Gruppe. Sie schickte den gleichen Mann, der unter dem Decknamen „Kent“ arbeitete und nach seiner Verhaftung alle Geheimnisse preisgeben sollte auch zu dem Leiter der Schweizer Gruppe Sandor Rado nach Hause. Die führenden köpfe dieser Gruppe überlebten zwar, aber die Sowjetunion brachte sich damit in den letzten beiden Kriegsjahren um wichtige Informationen und schließlich auch um treue Kämpfer an ihrer Seite. Die DDR und die Sowjetunion hatten guten Grund, dies hinter vordergründiger Heldenverehrung für einige wenige zu verbergen, denn es war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, daß Vertrauen und Bündnistreue schmählich verraten wurden. Aufgrund der Informationen, die Gurewitsch direkt mitgegeben wurden, konnten bei Stalingrad fünf Armeen ganz und eine teilweise zerschlagen werden.D as betraf die 6. Deutsche Armee, Teile der 4. Armee und aus den verbündeten Staaten die 3. und 4. Armee Rumäniens, aus Italien die 8. Armee und aus Ungarn die 2. Armee. Im Gegensatz zu den Generalen der GRU hat Libertas Schulze-Boysen als eine der wenigen Kämpferinnen der Roten Kapelle nicht eine einzige Auszeichnung erhalten.

Im Gegenteil, über dieser in so jungen Jahren zum Schafott geführten Frau schwebt sogar noch unausgesprochen der Vorwurf des Verrats. Inder Haft wurde sie von der Gestapo überlistet. Ihr Vernehmer von der Gestaposteckte seine Sekretärin zu ihr in die Zelle. Libertas vertraute diesem Spitzel die Adressen ihrer Freunde in der Hoffnung an, daß sie gewarnt werden würden.Die Gestapoagentin bekam dafür 5000 Reichsmark, das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse, ein persönliches Anerkennungsschreiben Himmlers und eine höhere Gehaltseinstufung, womit sich ihre Rentensprüche erhöhten, die ihr selbstverständlich in der Bundesrepublik trotz einer wohl kaum zu bestreitenden Nähe zum NS-Regime uneingeschränkt ausgezahlt wurden. Auch der Weg von Libertas Schulze-Boysen zum Schafott taugt nicht für Heldenmythen. Peter Weiss hat auf Grund der Aufzeichnungen des Pfarrers Harald Poelchau in der „Ästhetik des Widerstands“ meisterhaft die letzten Minuten im Leben der jungen Charlottenburgerin beschrieben: „Libertas aber hatte zu schreien begonnen, laßt mir, laßt doch mein Leben, schrie sie, und jetzt ging alles so schnell, ... der Scharfrichter hatte, mit einem Ruck an der Schnur, den Vorhang in der Mitte aufgerissen, knirschend waren die Hälften auseinandergefahren, die drei Gesellen, in Hemdsärmeln, die Pluderhosen in die Stiefel gestopft, waren aus dem Hintergrund hervorgesprungen, hatten sich über die Frau geworfen und sie, deren Beine zappelten, an das aufrecht stehende, am Kopfende mit einer Auskehlung versehene Brett gedrückt, dieses an seinem Scharnier umgekippt, den oberen Teil der hölzernen Halskrause im Gestell niederfallen lassen, und schon sauste von oben, aus seiner Verkleidung, das riesige Beil mit der schrägen Schneide herab, und trennte vom Körper das Haupt, das, überschüttet von Blut, in den Weidenkorbfiel. In Stößen schoß noch das Blut aus dem Hals...“.

Wenn sich auch die Sowjetunion dieser Frau nicht erinnern wollte und die DDR sie in der Würdigung weit hinter ihrem Mann zurücksetzte, sollte dieses Schicksal doch wenigstens mit denen der anderen Frauen des Widerstands als Vorbild der Jugend, dessen sie sich nicht schämen muß, dienen können. Das wäre auch wichtig für die Zuwanderer aus anderen Nationen, Staaten und Kulturen, die damals unter der deutschen Besatzung gelitten hatten. Manche ihrer Eltern sind in der Hoffnung hierher gekommen, daß der Staat verpflichtet sei, ihnen gegenüber persönlich Schuld aus dieser Vergangenheit abzutragen und sie bevorzugt zu fördern habe. Ihre Kinder aber finden sich plötzlich in der verordneten Schamgemeinschaft wieder, obwohl sie nicht einmal erblich belastet sind. Sie besuchen Schulen und Kitas, die Namen ermordeter jüdischer Bürgertragen und stellen beschämt Kerzen neben die Stolpersteine, weil die Ururgroßeltern ihrer Schulkameraden weggeschaut hatten oder wegen Widerstands von Nazis an einer Klaviersaite aufgehängt worden waren. Wer weiß das schon, denn deutschen Widerstand hat es nicht gegeben, bestenfalls Mitläufer.

Schaut man genauer hin, stellt sich vielleicht sogar heraus, daß sich diese Zuwandererkinder gar nicht so sehr zu unrecht mit den deutschen Kindern zusammen in der Schamgemeinschaft wiederfinden. Das könnte auf französische Jugendliche zutreffen, denn Frankreich war neben Italien und Japan der wichtigste Verbündete Deutschlands. In der von der Roten Armee umstellten Reichskanzlei kämpften schließlich nicht fanatische Deutsche um das Leben ihres geliebten Führers, sondern die 33. Waffen-Grenadier-Division der SS namens „Charlemagne“, in der vor allem französische Freiwillige auch aus den indochinesischen Kolonien Frankreichs kämpften. Unter rein nationalen Gesichtspunkten hätten ihnen gegenüber auch eher Jugendliche aus Polen, Jugoslawien oder Griechenland Anspruch, sich auf ihre Vorfahren als nennenswerte Akteure der Antihitlerkoalition zu berufen. Die Befreiungsarmeen dieser Nationen übertrafen jede für sich die Resistance. Ihr einziger Makel war, daß nach dem II. Weltkrieg keine Truppen der westlichen Alliierten in ihren Heimatländern standen, in Frankreich aber die US-Truppen. So wurde Frankreich Siegermacht mit einer eigenen Besatzungszone, Atommacht und schließlich auch ständiges Mitglied des neugeschaffenen Weltsicherheitsrates. Die Mitschuld von Frankreich und Großbritannien am Ausbruch des II. Weltkrieges dürfte durch das mit Hitlerabgeschlossene Münchner Abkommen dürfte wesentlich größer sein als die Verträge, die Sowjetrußland mit Hitler abgeschlossen hatte. Die Demut, die ein halbes Jahrhundert nach der Zerschlagung des Hitlerstaates immer noch abverlangt wird, erinnert sehr an die Haltung gegenüber Deutschland nach dem I.Weltkrieg, die den Weg Hitlers an die Spitze des deutschen Staates ebnete. Diesmal wird sogar eine Verinnerlichung dieser Schande von jedem deutschen Bürger erwartet. Die Verweigerung ist jene Protesthaltung, der die Widerstandskämpferin Katharina Ehrlicher bei vielen Jugendlichen begegnet und die der Nährboden des Neonazismus ist.

Soll Deutschland, vor allem die Jugend, die richtigen Folgerungen aus der Geschichte ziehen, ist es nun endlich an der Zeit, die Stadt nicht nur mit Denkmalen zuzubauen, die das Volk dauerhaft immer weiter in tiefer Scham versinken lassen, sondern endlich anzuerkennen, daß es auch in Deutschland nennenswerten Widerstand gegeben hat. Nicht umsonst haben die Nazis über 1000 KZs und ein riesiges Terrorsystem gebraucht, um den inneren Widerstand brutal zu unterdrücken. Das waren nicht nur heldenmütige Männer, sondern auch junge Frauen, die im Begriff waren, Familien zu gründen und ihren Kindern eine glückliche Zukunft zu schenken.

Den Jugendlichen könnten zahlreiche Vorbilder angeboten werden, auf die sie zurecht stolz sein könnten. Allein der Freundeskreis um das Ehepaar Schulze-Boysen erstreckte sich über mehrere hundert Menschen, die von der Nachrichtenübergabe an die Alliierten, England, Sowjetunion, USA über Flugblattaktionen bis zum Verbergen und Versorgen von als Juden verfolgten Nachbarn, was Katharina Ehrlicher mit 12 Jahren tat, dem Naziregime die Stirnboten. Erst jetzt 20 Jahre nach dem Kalten Krieg erfahren einzelne Widerstandskämpfer eine Würdigung. Trotz des sexistischen Beschlusses der Bezirksverordneten, öffentliche Einrichtungen, Straßen und Plätze nur noch nach Frauen zu benennen, gibt es bis heute noch keine Libertas Schulze-Boysen-Straße, oder Straßen, die nach Liane Berkowitz, Eva Maria Buch und Hilde Coppi benannt wurden. Das wurde bislang anderen Städten oder Bezirken wie Lichtenberg überlassen, wo es ein ganzes Viertel mit nach führenden Widerstandskämpfern der Roten Kapelle benannten Straßen gibt, nicht aber in der Region, wo sie lebten, Widerstand leisteten und starben.